August 14, 2025



 Verlässlich



 – Ein Mann in Schwarz sitzt leicht versetzt

Zu einer Liegestätte

Letztendlich von ihr abgerückt 

Verhält sich still wie es sich schickt

Gemäß der Etikette

 

Der Herr von magerer Gestalt

Macht sich verdeckt Notizen

Nimmt jede Regung merklich wahr

Streicht sich dezent durchs weiße Haar

Und seine Augen blitzen  

 

Es wirkt, als warte er gezielt

Auf einen Wegbegleiter

Mit stoischer Gelassenheit

Für ihn gilt weder Raum noch Zeit

Sein Mienenspiel, fast heiter

 

Und mit dem letzten Atemzug

Erhebt sich auch der fremde Gast

Er sammelt sich, macht sich bereit

So stehen sie nun Seit‘ an Seit‘

Entfernen sich ganz ohne Hast

 

Wo geht es hin, wer kennt den Weg?

Wie lange geht die Reise?

Der dunkle Herr, er schweigt diskret

Nur er weiß, was im Fahrplan steht

Er lächelt mild und weise

 

Verlässlichkeit geht ihm voraus

Er kommt und geht in Stille

Ob unscheinbar, ob hoher Rang

Er geht mit dir den letzten Gang

Es bleibt nur deine Hülle



 – Volker Teodorczyk –



August 13, 2025



(Fotografie um 1920)


 Kleine Rotlichtballade
hessisch



 – Du hast Papiere nicht und Ahnen,
Du hast nur einen runden Leib,
Und die Behörden kratzen Kreuze
Betreffs: Festendlicher Verbleib?
 
Du hast in meinem Bett gelegen
Vorgestern Abend im August
Und hast gesagt: «Herr Nachbaa, gelle,
Se maches korrz, isch hob ko Lust.»
 
Und saß ein Vogel vor dem Fenster
Und hatte einen Ehrenplatz -
«Herr Nachbaa, sehn Se, unner Mensche
Iss doch es Edstle so‘n Schpatz,

Der fliescht erum un hockt am Erker
Un guckt enoi un hot ko Geld,
Des issen Schpatz un iss als solscher
Beliebt, gefiddert un gemeld.»
 
Du hast Papiere nicht und Ahnen,
Und übermorgen bist du tot,
Und vor den Fenstern alle Vögel
Spalieren dir im Morgenrot,
 
Und hinter Wolken schreibt ein dicker
Prophet dich ein in die Kartei.
«Herr Nachbaa, sehn Se, unner Mensche,

Do muss mer mindstens Engel sei.»



 – Joe Fliederstein –



August 12, 2025



der hurensohn



 – was ein joke dieser hurensohn er stieg aufs schiff

und zeichnete mit seiner abnehmenden spur linden in die ferne

in den horizont

welche mutter muss er wohl gehabt haben?

dieses wohlverdiente glück einer geburt

aus einer mauer, aus spalten, aus einem mauerriss ist er gestiegen

direkt ins licht – es gab ihm sofort einen schatten

und niemanden ging es etwas an

er blickte auf zu seiner mutter

der regen hat im himmel

das erste mal mit seinem leben herumgehurt.



 – seefeldmaren – 



August 11, 2025

 


Im Krankenstand



 – Zwei Tage vorher ging ich noch zum Baden.

Doch war am Sonntag Schluss mit Sonnenschein.

Es setzte grauer Dauerregen ein,

und ich erlitt an Leib und Seele Schaden.


Am Montag schon kam Traurigkeit geflogen,

dann nahm der Schüttelfrost mich in den Arm,

kaum maß ich Fieber, wurde mir ganz warm,

und Schmerz ist in die Muskeln eingezogen.


Ich blieb nicht länger einsam in der Wohnung,

und hastete sofort zum Klinikum.

Zu spät, ich sah den Tod mit seiner Schippe


am Notaufnahmetor. Ich flehte «Schonung!»

und riss im Flur die Schwerverletzten um. –

Der Arzt war knapp: «Privatpatient mit Grippe.»



– gummibaum –



August 10, 2025



Wie man auch noch 
die letzten Leser vergrault 
Lektion 1



 – Ich bin mir relativ sicher,

dass ich diese Worte hier

bloß in meiner Fantasie

in die Tastatur tippe


und mich in Wirklichkeit

in irgendeiner Psychiatrie befinde,


wo ich sie

mit den eigenen Fäkalien

an die Wände

des Gemeinschaftsraums schmiere,


nur um die Pfleger zu ärgern.


***


Ich weiß weder,

warum ich das hier kursiv schreibe

noch warum ich es überhaupt schreibe.


Aber die Finger

kriechen über die Tastatur


wie Maden

über eine offene Wunde


und


AUF EINMAL

SCHREIBE ICH

IN GROSSBUCHSTABEN!


"Stell dir nur mal vor", sagt plötzlich einer,

"in diesem sogenannten Gedicht

würde jetzt auch noch jemand

Wörtliche Rede verwenden!"


***


Das ist nicht philosophisch,

sondern pathologisch;


keine Kunst,

sondern Geisteskrankheit.


Wäre ich der Leser

und nicht der Autor,


würde ich ebenfalls denken,

dass ich sie nicht mehr alle habe.


Und würde ich

ein "R" verlieren,

wäre ich kein "Autor" mehr,

sondern ein "Auto"


und vielleicht

würden mir spontan

vier Räder wachsen.


Wer weiß?


IHR jedenfalls nicht!

Ihr wisst ja nicht mal,

ob ich eine Hose trage,

während ich schreibe


... und ihr werdet es

auch niemals erfahren.


***


Vielleicht

sollte ich meine Texte demnächst

auf Fünfzig-Euro-Scheine schreiben

und an Obdachlose verschenken.


Wäre das

ein guter Deal?


Denn selbst wenn


- und ich betone WENN -


noch irgendwer freiwillig

neue Gedichte lesen wollen würde,


wäre dies hier

doch mehr als überflüssig.


***


Ich

bin eben nur paar Pfund

getrocknete Scheiße,

die im Schädel eingesperrt

vor sich hin stinken.


Als Mensch

bin ich womöglich gescheitert,


aber vielleicht wäre ich ja

als Möbelstück glücklicher.


***


– klaatu –



August 09, 2025

 


verstiegene berge



 – ich könnte achttausend

achthundertachtundvierzig servietten falten

und noch dreihunderttausend jahre


überlegen überlegen überlegen

warum ich auf dem mount everest

nicht höher gestiegen bin


die himmel scheibenblau

der hubschrauber einwandfrei gelandet

den müll lass ich oben


das stillste halten zählt

ausgeatmet nicht was könnte

hier vernebeln


wolken wolken wolken

jeden Tag

ein abstieg



 – Rachel –