Einverleibung


– Die Großstadt, wie ein Biest mit kalten Klauen,
knipst abends ihre tausend Augen an.
Dann schleicht sie mit der Einsamkeit heran,
um manche bange Seele zu verdauen.

Genüsslich fängt sie an mit dem Zerkauen,
weiß, wie mit Sorgen sie zersetzen kann,
zieht Sinn und Zeit formlose Fetzen an
und einverleibt sich letztes Urvertrauen.

Zurück lässt sie so manche leere Hülle.
Jetzt rätselt man im Haus, wer ihn wohl kennt.
Fast kann man etwas wie Gemeinschaft spüren.

Ein fremder Nachbar in der Großstadtfülle 
– die Türe erst nach Wochen aufgestemmt.
( «Man konnte den Geruch nicht ignorieren!» ).

– Claudia Neubacher –




Oma



– wenn Oma

vom «Land der Väter» sprach

blickte sie gen Westen

mit Hoffnung

und Glanz im Auge


im Westen

stand Oma oft

am Fenster mit Ostblick –

in sich gekehrt


«Früher

in der Heimat …»

sagte sie dann

und ein kleiner Schweißtropfen

an ihren Wimpern

glänzte



– niemand – 


 

niederschmetternder Gedanke


– Wenn dieselben Leute,

die Texte schön finden,

die ich grauenhaft finde,

wenn dieselben Leute also loben,

was ich unter keinen Umständen für lobenswert erachte,

wenn genau sie meine Texte aber auch loben

und schön finden,

wie grauenhaft schreibe ich dann eigentlich?



– tulpenrot –





 Feierabendfaktor 



– Ich verlasse den Käfig

auf der Höhe

baumbeschnürte Weite

Schwalben malen fedrige Ellipsen in

kamillegesättigte

Luft

meine Lunge pumpt

Schönheit in verbrauchtes Blut

und in mein Herz

stehlen sich seltsam verliebte Triller

zeitlos

wartet die Katze im Blütengrün

Ich steige

wieder in den Käfig



– Andrea M. Fruehauf –






Wenn der Schornstein raucht​


– Ick bin een orjinales Schwerjewicht,​

Naturbelassen, im Jeruch vaführend,​

Die Sehnsucht scheuer Seelen schürend​

Nach Mann. Und ick verleugne nicht​

Mein loderndes Verlangen, wenn een Weib​

Mir jradezu entgegenkommt und haucht:​

«Nimm mir und leg mir hin!» Denn raucht​

Der Schornstein überm Haus, und ihren Leib ​

Seh ick im Rauch zum Anjebot verwirbeln,​

Und wenn die Contenanz nicht weiter stört,​

Darf mir det Weib im Oberstübchen zwirbeln​

Und ick een Mann sein, wie et sich jehört.


– Joe Fliederstein –





Reis auf Reisen


 – Ein Reiskorn ging auf Reisen

mit anderen im Sack,

wie es in seinen Kreisen

halt üblich ist, und – zack!

 

schon flog das Korn von Thailand

nach Lissabon, Paris,

Sevilla oder Mailand

ins Einkaufsparadies.

 

Und käme es aus Aden,

es läg am selben Tag

im ersten besten Laden

in Frankfurt oder Prag.

 

Nun harrte es für Stunden,

wahrscheinlich aber mehr,

der Kundinnen und Kunden,

doch bald kam irgendwer.

 

Der kaufte auch noch Brause

nebst Bockwurst, extra lang

und lagerte zu Hause

den Reis im Vorratsschrank.

 

Dort war es kühl und finster,

und alles stand herum,

der Schwarztee aus Westminster

wie Soda medium.

 

Danach vergingen Wochen,

bevor der Mann beschloss,

ein Reisgericht zu kochen,

das er zum Wein genoss.

 

So ist das Schicksal eben.

Ein Reiskorn, das verreist,

das hat kein gutes Leben

und wird profan verspeist.

 

Dann geht es durch den Magen

samt Darm und Pipapo

und ohne große Klagen

geradewegs ins Klo.


– Didi.Costaire –



 


Frühling, noch ein Lied



– Als Gott, der laue Winde nordwärts trägt, 

Ist er am Morgen übers Land gekommen. 

Der Spross, der sich seitdem im Innern regt, 

Hat seinen Ruf, noch halb betäubt, vernommen. 


Schon wird er ungeduldig, keimt und drängt, 

Meint ICH sei’s, der ihn in den Kerker sperrte. 

Er ahnt, das Weiß, das in den Bäumen hängt, 

Ist nur der Auftakt roter Festkonzerte. 


Ich halte ihn ... umsonst, er bricht hervor 

Und bleibt sogleich an allen Düften kleben. 

Er schaut mich an und lacht, weil ich ihm schwor, 

Es könne nie mehr einen Frühling geben. 



 – Dirk Tilsner –